3 · Hiobsbotschaft
Neko und Kiro starrten Chronos mit weit aufgerissenen Augen an.
»Wir haben – was?«, fragten sie erstaunt, fast zeitgleich.
»Ganz einfach«, begann der Alte mit beunruhigend gleichgültiger Stimme. »Die Dame hat kein Problem mit Ihrem Kern – sie besitzt nur lediglich keinen mehr. Und der Herr hat ungewöhnlicherweise nur einen halben Kern. Wie das möglich ist, bleibt mir zwar schleierhaft, aber ich habe davon gehört, dass es schon vorgekommen sein soll.«
»Ich ... ich ... ich habe meinen Kern nich mehr?«, fiepste Neko geschockt.
»In der Tat, meine Liebe. Das, was dich am Leben erhält, ist einzig und allein die verschwindend geringe Menge an Reststaub, die du im Übrigen nicht besitzen dürftest, da es dir, meiner Kenntnis nach, nicht gestattet gewesen sein dürfte, Staub für eigene Zwecke zu behalten. Nach D-C-D-Analyse liegt dein Partikelwert nur noch bei ›0,13%‹, was, statistisch gesehen, in weniger als vierundzwanzig Stunden zur Annullierung deiner derzeitigen Existenz führen sollte.
Aber mach dir nichts draus, meine kleine Freundin. In wenigen Tagen wäre es ohnehin dazu gekommen. Der turnusmäßige Lux-Reset steht ja mal wieder bevor.« Beiläufig tätschelte er Nekos Kopf – als würde er sie damit beruhigen können.
»Um jedoch all deine Fragen, der Vollständigkeit halber, zu beantworten: Daher kommen deine erwähnten Schwächeanfälle.
Und ja, deshalb ist deine Kraft verschwunden. Das zwischenzeitliche Auflodern kann ich mir nur damit erklären, dass du mit hochenergetisch geladenem Staub in Kontakt gekommen sein musst. Das kann wohl nur mit dem Blut in Zusammenhang stehen, das du während deines geschilderten Vorfalls in meinen ehemaligen Archiven abbekommen hast. Denn das Auslöschen des Exsecutors erfolgte ja noch, während du damit konterminiert warst und den nächsten Schwächeanfall hattest du ja scheinbar erst, als du das Blut wieder abgewaschen bekommen hast. Warum du da nicht schon selbst drauf gekommen bist ...?
Andererseits hat es wohl daran gelegen, dass dich dein Begleiter hier immer wieder mit Energie versorgt hat. Dass das allerdings überhaupt funktioniert hat, verdankst du dem Umstand, dass sich dein Staub in induktionsähnlicher Wechselwirkung mit dem Kern, über so lange Zeit, wohl mit dessen Eigenschaften aufgeladen haben muss. Absorption und Regeneration.
Allerdings hättest du wohl auf so manch unbedachten Einsatz deiner Kräfte verzichten sollen. Dann hättest du jetzt noch ein paar angenehme letzte Tage mehr auf dieser Welt. Und dein Begleiter hier wohl auch.
Dass du bei einem Somniator gelandet bist, hat wohl mit einer gewissen Affinität seines Halbkerns mit deinem Staub zu tun.
Natürliche Symbiose könnte man es nennen.
Praktisch hast du damit auch sein Schicksal besiegelt. Seit du in seiner Nähe bist, absorbiert das Kern-Vakuum in dir auch seine Kern-Energie. Mit einem intakten Kern dieser Stärke könnte er wohl auch euch beide am Leben erhalten, aber so ... Sein Kern kann nun mal in diesem Zustand keinen eigenen passenden Staub aufnehmen.
Es tut mir aufrichtig leid, euch keine erfreulicheren Nachrichten mitteilen zu können. Aber wie es aussieht, werdet ihr euch auf diese Weise wohl bald gegenseitig auf dem Gewissen haben. Hach, irgendwie auch tragisch romantisch ...«
– Das war für die Zwei eine Hiobsbotschaft, die sich gewaschen hatte. –
Kiro versuchte das alles noch innerlich zu verarbeiten.
Neko musste mehrmals schwer schlucken, bevor sie wieder im Stande war zu sprechen.
»Aber ... wie konnte das denn passieren? Warum hab ich das nich gemerkt? Dieser elende Exsecutor-Penner!«
»Oh, Philia ... der Dra'ák-Vollstrecker hat das nicht getan ... Dazu fehlt ihm ganz einfach die Macht. Du wirst wohl bereits ohne einen Kern hier angekommen sein, was auch deine schnell eingetretene Sichtbarkeit erklären würde. Das Aufrechterhalten einer optischen Barriere ohne Kern-Energie verzehrt rasend schnell die Ladung des Staubs.«
Nekos Augen wurden noch einmal größer; zu spiegelnden Teichen, gefüllt mit nüchterner Erkenntnis, Wut und Verzweiflung. »Aber ... aber das heißt ja, ... dass mein Herr ...!«
»Ja mein Kind. Dein Herr hat dich wohl, wie schon etliche vor dir, ausgemustert. Da ein Hybrid wie du, in Besitz eines Kerns, nicht einfach getötet werden kann, ohne sich wieder am Ausgangspunkt seines quantengebundenen Ursprungsorts im Raum zu rematerialisieren, nutzten einige der Alten seit jeher die verbotenen Umwege des Teleports und der antiken Viadukt-Technologie, um sich lästig gewordenen Schöpfungen zu entledigen. Kein Sonderauftrag, meine Gute. Sondern deine geplante Exekution, tut mir leid.
Dass dein Herr eine solche Technologie besitzt, sollte allerdings umgehend dem Widerstand gemeldet werden. Das ist eine brisante Angelegenheit in diesen Tagen. Falls die Lux diese Technik wieder in die Finger bekommen würden, nicht auszumalen, was uns dann drohen könnte.«
Kiro saugte diese Worte auf wie ein Schwamm. Das waren Themen, mit denen er sich schon lange beschäftigte und von denen er zumindest eine ansehnlich laienhafte Fachkenntnis besaß. Auch wenn er nie vermutet hätte, sie in diesem Zusammenhang einmal anwenden zu können.
»Okay. Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, dann hat ihr Schöpfer sie hierhergeschickt, damit sie stirbt. Sie sollte also bei der Ankunft bereits tot sein, da sie ohne ihren Kern und den Staub, den sie geklaut hatte und von dem der Typ wahrscheinlich nichts wusste, keine Sekunde lang überlebt hätte ... Warum hat er dann diesen Dra'ák noch beauftragt?«
»Verschone mich doch bitte mit deiner Rhetorik, mein Guter. Du kennst die Antwort und die richtigen Fragen doch bereits.«
Kiro stand auf und rieb sich angestrengt die Schläfen, um seine Gedanken zu ordnen. »Er hat ihn also nicht beauftragt! Wäre ja unlogisch gewesen. Die Frage ist also erstmal: Wer hat ihn dann beauftragt? Was wiederum die Frage aufwirft: Wenn du doch eigentlich tot sein solltest, wer würde nach dir suchen oder deine Anwesenheit überhaupt ...«
Er fand die Antwort in den fahlen braunen Augen des Flammenkindes; in dem nebulösen Hauch von sich versteckendem grün, den er darin wahrnahm.
»Deine Schwester! Sie hat in meinem Traum ...«
»Meine Schwester?« Nekos glanzlose Augen, blickten verwirrt zu Kiro empor.
»Licentia?«, fragte auch Chronos nach.
»Ihren Namen hat sie mir nicht gesagt, nur dass ich sie finden soll. Neko, du hast es doch heute Morgen auch gespürt, das weiß ich.«
»Ja, ich hab sie ... in dir gespürt. Also hatte ich Recht? Sie lebt noch und du kannst mich zu ihr bringen?«
Kiro sah seinem kleinen Schützling noch einen Moment lang in die Augen. – Sollte er sie wirklich zu ihr bringen? Er erinnerte sich an Licentias Angebot, ihm die Wahrheit über sein Schicksal zu offenbaren. Aber war es nicht auch diese Licentia, die wollte, dass Serva stirbt? –
»Ja, das würde ich. Aber ich weiß leider nicht genau, wo ich anfangen soll zu suchen. Sie hat mir nicht sagen können, wo sie sich befindet.
Nur etwas von einem Kerker erzählt und mich hierher ...«
»Heiliger Jimi Hendrix! Was bist du nur für eine Hohlbirne!«, keifte ihn Amor an, der mit verschränkten Armen und abschätzigem Blick im Türrahmen lehnte. »Du sagst, dass meine Liz noch lebt?«
»Ich denke schon. Wie hätte sie denn sonst mit mir sprechen können?«
»Kiro«, wollte Neko fragen, »wo könnte ...«
Doch Amor herrschte sie sofort scharf an. »Du kleiner todgeweihter Krümel hältst mal schön deine Klappe, wenn ich mich unterhalte!
Und wag es ja nicht, ihren Namen auszusprechen!« Er legte seine Hand drohend auf den Griff des Revolvers in seinem Gürtel.
Neko blickte sofort wieder schuldbewusst auf das Parkett zwischen ihren Füßen und verschluckte, zugleich aufgeregt und ängstlich, den Rest ihrer Worte. Der unfreundliche junge Mann kam selbstbewusst, mit den Daumen in den Gürtel gehakt, ins Zimmer stolziert und starrte dabei gewaltsam immer noch Nekos Köpfchen nieder.
»Entschuldige bitte die Unterbrechung, Chronos, aber dürfte ich ihnen das, was auch du bereits annimmst, vielleicht höchst persönlich unter die Nase reiben?«
»Nur zu. Du lässt dich ja sowieso nicht von mir bremsen«, murmelte der Alte in seinen Bart.
Amor ließ sich eine spöttische Redepause nicht nehmen, in der er seine Überlegenheit auskostete. Er spazierte an einem Regal vorbei und ließ seine Fingernägel beiläufig suchend über die Bücherrücken rattern.
»Wenn ihr keinen Scheiß erzählt, oder geträumt habt, liegt es doch auf der Hand! Vorausgesetzt man kennt sich etwas mit den Gewohnheiten unserer Freunde den Dra'ák aus. Genaugenommen mit dem Jagdverhalten und den Fähigkeiten ihrer Jäger-Kasten.«
Die beiden Jüngsten im Raum zuckten zusammen, als er das schwere Buch, das er der alphabetischen Ordnung entriss, auf den Tisch knallte
– Dra'ák V–Z / von „Venatoren" bis „Zwielicht".
Während Amor überheblich anfing, wörtlich zu zitieren, blätterte Kiro neugierig in dem Buch. Durch all die handgeschriebenen Texte und Zeichnungen von verschiedensten Dra'ák-Gestalten. Diese Wesen schienen, ähnlich wie Insektenvölker, in zig verschiedene Kasten und Unterarten eingeteilt zu sein, erkannte er.
» ›Die Exsecutoren:
Dra'ák vierter Ordnung; Gattung bildet eigene Legion; unterstellt, den Imperatoren dritter Ordnung.
Genetik:
– Auf das Langstrecken-Aufspüren und Tötungseffizienz bei Einzelzielen spezialisierte Unterart der Vanatoren (Jäger).
Schwarmverhalten:
– Treten in Kleinstgruppen von meist nur zwei Individuen auf; nisten an versteckt gelegenem Ort in Zielnähe.
Weitere Besonderheiten:
– Anatomisch: hochgezüchtet auf Kraft und Geschwindigkeit; stark toxische Fangklaue, kann Kern paralysieren oder isolieren.
– Kognitiv: Intelligenz, gering; jedoch hoch spezialisierte Telepathen; fähig zu visueller und auditiver Mimikry, wenn mentale Verbindung mit Wirt besteht; instinktive Fallensteller.
– Gefahrenwert auf Gaia-Skala: 9 von 13.‹ «
Man hätte eine Stecknadel in einen Haufen Watte fallen hören können, so still wurde es im Raum.
Wieder war es Amor, der diesen Umstand für einen Schockmoment ausnutzte, indem er seine Hand auf den Schreibtisch schmetterte.
Sein Gesicht kam Kiro so nah, dass diesem der alkoholische Atem in den Augen brannte; er den wütenden Herzschlag seines Gegenübers an den bebenden Nasenflügeln erkannte.
»Natürlich lebt sie noch, du Idiot! Und ihr zwei begriffsstutzigen Knalltüten wart bereits in ihrer Nähe! Ihr bringt mich sofort dahin! Auf der Stelle!
Wisst ihr, was ihr getan habt, als ihr den Exsecutor kalt gemacht habt?! Ihr habt damit das einzige getötet, das Liz wohl noch am Leben erhalten hat!«
Jetzt war Chronos derjenige, der ein Machtwort sprach:
»Für sowas ist keine ZEIT! Die Arc wird pünktlich starten und muss noch mit dem restlichen Wissen und den wertvollsten Artefakten dieser Welt beladen werden! Und du, Amor, wirst in der neuen Welt gebraucht. Dein Platz wird auf diesem Flug nicht leer bleiben, dafür werde ich sorgen! Schluss mit dem Unsinn! – Das Ende von Licentia ist besiegelt. Das Verleben dieser zwei armen Kreaturen hier leider auch. Die Zeit ist ein Urteil, das niemand revidieren kann! Damit ihr mich richtig versteht: Es gibt Wichtigeres im Hier und Jetzt als eure Gefühlsduseleien oder das Leben von ein paar unbedeutenden Individuen! Auch der mögliche zweite Exsecutor könnte euch hierher gefolgt sein. Ich werde das Portal bis morgen früh verschlossen halten. Nichts und niemand wird diese Hallen bis dahin betreten oder verlassen. Basta!«
Der alte Mann, der bis eben noch so gebrechlich wirkte, strahlte nun solch eine Aura an Gewissheit aus, dass alle drei Anwesenden sich nicht trauten, auch nur im Entferntesten zu protestieren.
Der Herr der Zeit hatte gesprochen. Und seine Worte klangen wie das urteilende Niedergehen eines eichenen Richterhammers. Er erhob sich, warf gekonnt den weißen Kittel an seinen Haken und verließ wortlos das Arbeitszimmer.
Zurück blieben: drei schweigende Verurteilte.
Jeder an seine innersten Gedanken gekettet.
Klimpernd platzte Kalliope in die grüblerische Stille. »So, hier sind eure heißen Getränke ...« Sie sah, während sie die Tassen verteilte, nur in ausdruckslos starrende Gesichter. Das angespannte Schweigen bereitete ihr ziemliches Unbehagen. »Was ist denn mit euch los? Schaut doch nicht so wie sieben Tage Regenwetter, meine Süßen. Ist wer gestorben?« Der Charme ihres aufheiternden Lächelns fand allerdings kein Echo.
»Noch nicht ..., aber zwei von drei Todeskandidaten sitzen hier in diesem Raum.«
»Und die dritte ist alleine irgendwo eingesperrt«, ergänzte Kiro Amor, im selben niedergeschlagen Brummen.
»Nur, wenn wir nichts dagegen tun!«, flüsterte die letzte im Bunde dem Boden entgegen.
»Auch wenn ich es hasse, dir Recht zu geben, kleine Verräterin, aber ich denke, wir haben ausnahmsweise mal dasselbe im Sinn.«
»Hast du eine Idee, wie wir hier wegkommen sollen, Amor?«
»Da wird uns unsere zauberhafte Muse hier wohl weiterhelfen müssen, Mister Halbkern.«
»Ääähm, Jungs? – Und Mädel? Könnte mich bitte mal jemand von euch aufklären, worum es hier geht, bevor ich in irgendwelche Verschwörungen mit hineinverzuselt werde?«
»Später, Süße. Ich brauch jetzt erstmal 'nen Whisky«, stellte der ernüchterte Herr mit den Dreadlocks fest und bediente sich frech an Chronos' Schnapsvorrat aus der untersten Schreibtischschublade. »Er wird schon nichts dagegen haben, der Alte.« Ohne zu fragen, beschenkte er alle drei dampfenden Tassen mit einem gut gemeinten Schuss Scotch.
»Zweimal Tee und eine Schokolade nach Amor-Art, bitte sehr. Ihr könnt's gebrauchen!«
Erneut in lautes Schweigen vertieft, wurden die Tassen eilig geleert.
Amor begab sich dann wieder in Richtung des versteckten
Shuttle-Hangars, in dem er, während er offiziell noch Kisten zu verstauen hatte, nebenher nach nützlichen Gegenständen für eine heimliche Flucht suchte.
Kiro verließ den Raum kurz danach mit dem Vorhaben, Chronos doch noch einige Antworten zu entlocken. Die beiden Mädchen blieben vorerst unter sich.
»Und was machen wir zwei Hübschen jetzt?«, zauberte die Muse lächelnd die bedrückende Stimmung davon. »Ach, ich weiß schon, wie ich dich aufheitern kann. Komm mal mit, ich hab 'ne coole Idee!« Neko konnte sich kaum wehren, so enthusiastisch wie sie von der immer fröhlichen Kalliope an die Hand genommen und aus dem Zimmer in die obere Etage geschleift wurde.
Das Studierzimmer war leer.
Nur noch gefüllt mit dem gleichmäßigen Ticken der Wanduhr.
In gleichem Takt klappte Buch für Buch der großen Enzyklopädie an das vorherige;
ausgelöst durch die Lücke von V wie Vorsehung bis Z wie Zeitenwende;
Band für Band;
von U wie Unaufhaltsam,
über L wie Lux,
bis A wie Apokalypse.
... Klapp ... Klapp ... Klapp ... Klapp ... Klapp ...
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